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Mario Marino (Hrsg.) – Körper, Leibideen und politische Gemeinschaft. «Rasse» und Rassismus aus der Sicht der Philosophischen Anthropologie [Verlag Traugott Bautz, Nordhausen 2020]

In einem Klima lebhafter öffentlicher Debatten um rassistische Gewalt, koloniale Schuld und Wiedergutmachung ist der akademische Diskurs in Philosophie, Geistes- und Sozialwissenschaften zunehmend durch Versuche geprägt, etablierte Theorien und Begriffe nach postkolonialistischen Maßstäben neu zu konzipieren. Der zu besprechende Tagungsband geht einen etwas anderen Weg. Auch er hat es sich zur Aufgabe gemacht, den Komplex «Rasse und Rassismus» kritisch zu durchdenken, unternimmt dies jedoch auf dem Boden der Philosophischen Anthropologie als einem klassischen Paradigma im Schnittfeld von Philosophie und Soziologie um deren Protagonisten Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen. Der Band geht auf das vom Herausgeber organisierte internationale Symposium «Leib, Körper, Gemeinschaft und die Krisen der Moderne» im Jahr 2013 in München zurück. Den Hintergrund bildet die Wiederentdeckung der Diskussion des Begriffs der Rasse in der Philosophischen Anthropologie in den 1930er Jahren durch Mario Marino. Im Zentrum steht hierbei Erich Voegelins 1933 – kurz vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten – erschienenes Buch Rasse und Staat, auf das Helmuth Plessner und Arnold Gehlen 1934 mit zwei ausführlichen Besprechungen reagierten [E. Voegelin, Rasse und Staat, Mohr Siebeck, Tübingen 1933. H. Plessner, Besprechung von Erich Voegelin: Rasse und Staat, in Zeitschrift für Öffentliches Recht, 14, 1934, S. 407-414. A. Gehlen, Arnold, Besprechung von Erich Voegelin: Rasse und Staat, in Die Erziehung 9, 1934, S. 201-204].

Voegelin liefert in seinem Werk einerseits eine radikale Kritik am Anspruch der naturwissenschaftlichen Rassentheorie (der Rassenbiologie bzw. des Rassenmaterialismus), gesellschaftliche Strukturen aus biologischen Daten abzuleiten. Er zeigt, dass dabei eine naturwissenschaftlich nicht zu überwindende Erklärungslücke bestehen bleibt, welche die Naturwissenschaft nur durch fachfremde geisteswissenschaftliche Methoden (die Bildung von Kulturtypen) überbrücken kann, was sie zugleich verdecken muss. Voegelin plädiert andererseits für die explizite Schärfung dieser geisteswissenschaftlichen Methoden und für deren Rückbindung an die Philosophische Anthropologie. Seine Hauptaussage besteht nun darin, dass Leibideen als mythische und historisch variable Leitbilder des menschlichen «Bedeutung sind. Leibideen sind «Mit-Erzeuger der Staatsrealität» [Voegelin, Rasse und Staat, S. 4].

Dieser Gedanke wird auf philosophisch-anthropologischer Grundlage im Rahmen des Systems einer nie vollendeten Staatslehre ausgearbeitet, in der die Leibideen – es werden der antike Stammstaat mit seinen mythischen Genealogien, das Corpus mysticum Christi des Heiligen Römischen Reiches sowie schließlich die moderne Idee der Rasse genannt [Voegelin, Rasse und Staat, S. 127ff] – eine relativ untergeordnete Funktion besitzen sollten.

Es gilt in der einschlägigen Forschung als Konsens, dass die Philosophische Anthropologie es von Anfang an dezidiert ablehnte, den Begriff der Rasse zum Grundbegriff ihres Denkens zu erheben. Die Frage, welcher Status diesem Begriff aber dann genau zukommt, konnte jedoch bisher nur auf philologisch recht dürftiger Grundlage behandelt werden. So bekannt wie umstritten sind Gehlens Ausführungen in der ersten Auflage seines Hauptwerkes Der Mensch zu den obersten Führungssystemen, die den Charakter des einzelnen Menschen nach «Zuchtbildern» [A. Gehlen, Gesamtausgabe, Bd. 3: Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt. Textkritische Edition unter Einbeziehung des gesamten Textes der 1. Auflage von 1940, 2 Teilbände, hrsg. v. Karl-Siegbert Rehberg, Klostermann, Frankfurt am Main 1993] formieren sollen –  ein Terminus des NS-Ideologen Alfred Rosenberg, auf den sich auch Voegelin in Rasse und Staat für den Begriff des «Mythus» zustimmend beruft (Voegelin schreibt: «Während für die ältere Form der Rassenidee ihre Begründung in einer als Naturwissenschaft verstandenen Anthropologie charakteristisch ist, tritt die neue bewußt als ‚Mythus‘ auf, oder wie wir in der Wissenschaftssphäre vorziehen würden zu sagen, als Leibidee, und zwar als eine Gesamtwesensidee des nordischen Menschen, die einen geistigen Typus des nordischen Menschen als Leitbild hat», wobei er «vor allem an den Mythus des Blutes, wie er in Rosenbergs Werk sichtbar wird» [Voegelin, Rasse und Staat, S. 15, denk] – sowie Gehlens Fragment gebliebene Philosophie des Nationalsozialismus [Abgedruckt in Gehlen Gesamtausgabe, Bd. 3, S. 789-795, Anm. 6.15; s. dazu den Beitrag von Rehberg, S. 175ff]. Weitaus seltener wird erwähnt, dass sich auch in Plessners Werk ähnlich irritierende Äußerungen finden, etwa wenn er 1924 in den Grenzen der Gemeinschaft über den «Glaube[n] an die Erneuerungsmöglichkeit des Menschen durch bewußten Rückgang auf die Quellen der menschlichen Natur» schreibt: «Solange man diesen Glauben rassenbiologisch und rassenhygienisch, bevölkerungspolitisch nimmt, ist er in vielem berechtigt und wird uns allmählich Gewißheit»[1]. (Einzig Walter Seitter weist in seinem Beitrag – etwas ratlos – auf diese Stelle hin.) Mit Voegelins bisher kaum beachtetem Versuch, den Begriff der Rasse ausdrücklich auf philosophisch-anthropologischen Grundlagen zu explizieren und theoretisch zu verorten, ändert sich diese mangelhafte Diskussionsgrundlage signifikant. Die vorliegende Besprechung konzentriert sich auf die Teile des Bandes, die sich der Fragestellung in theoretisch-systematischer Absicht nähern.

Der erste, programmatische Beitrag des Bandes von Joachim Fischer hebt Voegelins Begriff der Leibidee als fruchtbar und bleibend relevant heraus. Der systematische Vorschlag im Anschluss an Plessner lautet, Leibideen als Korrelat der exzentrischen Positionalität zu verstehen. Fischer greift dazu auf dessen Unterscheidung von Leib und Körper zurück. Gesellschaftliche Leibideen spezifizierten den Körperbezug der exzentrischen Positionalität. Eine Leibidee «ist eine […] ‚Idee‘ zum ‚Körper‘ als ‚Leib‘» (S. 19f.). Leibideen verwandelten demnach den Körper in einen Leib (S. 20). In einer knappen, aber anregenden Passage widmet Fischer der Leibidee des Corpus mysticum Christi aufschließende Gedanken zum «Leibritual des Abendmahls» (20f.). Entscheidend sei vor allem die von Voegelin aufgezeigte Pluralität von Leibideen. Es sei jedoch erstaunlich, so Fischer weiter, dass Voegelin nicht noch weitere Leibideen angeführt habe – so etwa neben dem Totemismus und der ökologischen Nachhaltigkeit vor allem die humanistische Idee der Menschenwürde, wie sie sich im 17. Jahrhundert in der englischen Habeas-Corpus-Akte bis hin zu den globalen Menschenrechten des 21. Jahrhunderts niedergeschlagen habe (S. 21).

Der Beitrag von Mario Marino stellt zunächst ausführlich den Forschungsstand zum Thema Rassenidee und Philosophische Anthropologie dar (S. 32ff.). Sodann rekonstruiert er das Verhältnis zwischen Voegelin und Gehlen bzw. Plessner. Marino arbeitet sehr präzise Voegelins und Gehlens Stellung zu Scheler heraus. Beide übten eine in ihrer Stoßrichtung vergleichbare Kritik an Schelers Versuch der Überwindung des Leib-Seele-Dualismus durch den Begriff des Geistes (S. 43ff.). Der Unterschied zwischen den Konzepten Voegelins und Gehlens bestehe darin, dass Voegelin eine ontologische Leib-Seele-Geist-Einheit annimmt, während Gehlen auf den Begriff der Handlung als Vollzug setzt. Gehlens von Marino mit großer Quellenkenntnis rekonstruierter indirekter Kritikpunkt an Voegelin lautet, dass der Begriff einer Leib-Seele-Geist-Einheit keine positive Bestimmung zu geben vermag, sondern negativ bleiben muss (S. 45f.). Marino zeigt weiterhin auf, an welcher Stelle Gehlen in der ersten Auflage von Der Mensch Voegelins Begriff der Leibidee (ohne diesen zu zitieren) einbaut, nämlich in der phantasiegeleiteten Handlungsformierung durch eine Weltanschauung (S. 56). Marino bescheinigt Gehlen eine Reduktion des Voegelin’schen Leib-Seele-Geist-Komplexes, bei dem jeder einzelne Aspekt seine ihm eigene Idee ausbildet, auf den Aspekt der Leibidee, die aufgrund seines «kategorialen Fehlers der Gleichsetzung von Mensch und Gemeinschaft als gefährdete Lebewesen» überdies auf die «Lebenserhaltung» (S. 56) der politischen Gemeinschaft zusammenschrumpfe. Zugleich würdige aber Gehlen in seiner Rezension – so wie auch wie Plessner – Voegelins eingehende Kritik am Rassenmaterialismus, d.h. an der Vorstellung, kulturelle Gehalte ließen sich aus biologischen Strukturen ableiten (S. 59). Marinos Interpretation des Verhältnisses zwischen Voegelin und Plessner vertritt die These, dass beide eine Umkehrung des biologistischen Rassebegriffs anstrebten: «Rasse» werde von Voegelin wie von Plessner (in dessen Rezension) zu einer «Ausdruckskategorie umgedeutet» (S. 47), die, wie Marino mit Plessner formuliert, nicht am Körper-Haben, sondern am Leib-Sein ansetze. Die rekonstruierte Position läuft auf eine «Aristokratie des Geistes» (S. 48) hinaus, in der es nicht um technische Manipulationen des Erbguts, sondern um Integration durch Wertideen mittels Erziehung nach dem Maßstab großer Vorbilder als vornehme Repräsentanten der Rasse geht – Voegelin stellt in seinem Buch Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus [E. Voegelin, Die Rassenidee in der Geistesgeschichte von Ray bis Carus, Junker und Dünnhaupt, Berlin 1933]. Goethe als ein solches hin (S. 52f.). An dieser Stelle hätte man sich Ausführungen gewünscht, wie sich diese Position zu den oben zitierten Aussagen Plessners in den Grenzen der Gemeinschaft und in Macht und menschliche Natur verhält, von denen man nicht annehmen kann, dass Plessner sie inzwischen fallengelassen hatte.

Die beiden folgenden Aufsätze von William Petropoulos und Michael Henkel können als kontroverse Beiträge zur Frage nach der Kontinuität oder Diskontinuität von Voegelins Werkentwicklung gelesen werden. Während Petropoulos für eine Kontinuität seines Gesamtwerkes plädiert, stellt Henkel für die Zeit nach dem Erscheinen der beiden Rassebücher einen Wandel seines Denkens fest. Unabhängig davon, welcher der beiden Interpretationen letztendlich recht zu geben wäre, ist diese Diskussion aufschlussreich für die sachliche Struktur des verhandelten Problems. Petropoulos betont besonders die von Voegelin herausgestellte Differenz zwischen (natur-) wissenschaftlichen Rassentheorien und politisch-mythischen Rassenideen, weshalb die Leibideen folglich nicht «Teil des Kategoriengefüges der Staatslehre, sondern ein Objekt geisteswissenschaftlicher Forschung» (S. 67) seien. So zutreffend diese Darstellung ist, kommt dabei gleichwohl die Tatsache zu kurz, dass Voegelin selbst die Auffassung vertrat, dass mit der geisteswissenschaftlichen Rassentheorie von Ludwig Ferdinand Clauß «ein neuer Ansatz der Rassenlehre gegeben [ist], von dem aus sie den Weg der Wissenschaft weiter gehen kann» [Voegelin, Rasse und Staat, S. 13, vgl. auch S. 103]. Voegelins Kritik der naturwissenschaftlichen Rassentheorien bedeutet keineswegs eine Zurückweisung jeglicher wissenschaftlicher Rassentheorie, sondern deren Anbindung an eine geisteswissenschaftliche Rassentheorie[2]. Petropoulos zufolge ist die Kontinuität von Voegelins Werk durch «das Thema der Rückbindung des menschlichen Bewusstseins an ein höheres, weltjenseitiges geistiges Sein (traditionell ‚Gott‘ genannt)» (S. 81) gegeben. Durch diese Interpretation gewinnt die in Gott verankerte universelle Leibidee des Heiligen Römischen Reiches, das Corpus mysticum Christi, Vorbildcharakter, während «die Leibideen von der Nation oder Rasse Verfallserscheinungen [sind], weil sie einen Teilaspekt des Menschen über das Bild einer universalen Menschheit stellen» (S. 69; vgl. S. 74f.). Dieser Verfall bestehe im «Transzendenzverlust» (S. 80) der aus dem Zerfall des Reichs hervorgehenden politischen Gemeinschaften, sodass man sagen könne, Voegelins Grundgedanke habe sich in dessen 1938 erschienenem Werk Die politischen Religionen nicht verändert, sondern hinsichtlich der religiösen Bezüge vertieft und zu der Unterscheidung zwischen partikularen (innerweltlichen) und universalen (transzendenzoffenen) politischen Gemeinschaften verallgemeinert (S. 78f.).

Anders als Petropoulos zeichnet Henkel an dem 1940 erschienenen Aufsatz »99) nach. Voegelin schildere die Entwicklung der modernen Rassevorstellungen als Schließung der Gemeinschaften gegenüber der universalen christlichen Reichseinheit, d.h. als Abschließung gegenüber der Transzendenz. Wie schon von Petropoulos dargestellt, gehen Transzendenzverlust und Partikularisierung Hand in Hand. An die Stelle Gottes trete die Selbstbezüglichkeit der Gemeinschaften, die sich Vorstellungen wie Nation oder Klasse spiegeln könne (S. 100). Henkel zeigt aber nun, wie sich Voegelins Blick auf Carl Gustav Carus seit 1933 verändert hat: «Voegelin enthält sich nämlich nun des Lobes, das er einige Jahre zuvor noch überaus deutlich formuliert hatte. […] Bedeutete Carus’ Rassenlehre für den Voegelin von 1933 also noch eine angemessene Elaboration der Rassenidee und damit einen Schritt in die richtige, künftig einzuschlagende Richtung, die durchaus im Horizont der Innerweltlichkeit lag, so gilt sie 1940 in den USA als eine Ausarbeitung, die – vor allem wegen ihrer Innerweltlichkeit – später aufkommenden unangemessenen und irregeleiteten Rassekonzeptionen den Weg bereitete» (S. 100). Hobbes, der «in den Rassebüchern gar keine Rolle gespielt» (S. 99) habe, werde nun «als der wegbereitende Denker genannt» (S. 101). Damit stelle Voegelin seine Überlegungen 1940 in einen «durchaus anderen theoretischen Rahmen» (S. 102) als noch 1933. Neben dem veränderten Wertakzent der Transzendenz lasse Voegelin die Staatslehre gänzlich fallen; schließlich fehle Voegelins «eigene Positionierung zugunsten einer um hochwohlgeborene Personen geordneten hierarchischen Gemeinschaft» (S. 102). Damit vermag Henkel die Auswechslung des Maßstabes zu identifizieren, an dem Voegelin «die Geschichte des Rassedenkens als Verfallsgeschichte» (S. 103) bewertet: 1933 wird dieser Maßstab durch das Denken von Carus, Clauß und Spann, «also innerhalb der Tradition des Rassedenkens bzw. innerhalb des Rasseparadigmas repräsentiert, während 1940 die neuzeitliche Geistesgeschichte als Säkularisierungsgeschichte letztlich im Ganzen einen Verfallsprozess darstellt» (S. 103), so dass das Rassendenken als solches als Transzendenzverlust und damit als Verfall erscheint. Henkel kommt zu dem Schluss, dass Voegelin 1933 selbst noch ein Verfechter der Abkehr von der Transzendenz gewesen sei, ebenjener Abkehr, der seine spätere Kritik galt (S. 104). Henkel zeigt weiter auf, dass Voegelin in der Zeit zwischen 1933 und 1940 nun auch die koloniale Expansion der westeuropäischen Staaten als Hintergrund für das Aufkommen der Rassenvorstellungen berücksichtige (S. 99f.). Die Säkularisierung als Ursache des Verfalls schreibe Voegelin der Idee der Humanität zu (S. 103). In dieser Perspektive ist die Rassenlehre eine Begleiterscheinung des politischen Humanismus, dessen andere Seite die staatliche Souveränität ist.

Diese bei Henkel nur angedeutete Implikation hat Plessner in seiner Rezension genau gesehen, wie Walter Seitter bemerkt. Seitter stellt fest, dass Plessner „Voegelins Arbeit nicht nur ausführlich, sondern mit einem hohen Grad von Zustimmung, ja Empathie“ (S. 138) rezensiert. Plessner wendet sich mit Voegelin «gegen den liberalen Rassenindifferentismus», für den «es nur einen Rassenwahn, nie eine Rassenfrage gab» (S. 139) [Zit. Plessner, Besprechung von Erich Voegelin: Rasse und Staat, S. 407]. Gleichwohl ordne Plessner den Rassengedanken aufgrund seines wissenschaftlichen Anspruchs der bürgerlichen Gesellschaft zu (S. 139). Rasse, schreibt Plessner an der von Seitter zitierten Stelle weiter, ist «ein wissenschaftlicher Begriff vom Leib […], der den körperlichen Menschen nach Kategorien für die belebte Natur der Tierreihe einordnen soll. Sucht also die bürgerliche Gesellschaft einen Ausdruck für ihre leibliche Existenz, so findet sie ihn im Untermenschlichen naturhafter Bindungen» [Plessner, Besprechung von Erich Voegelin: Rasse und Staat, S. 408f.]. Plessner kennzeichnet Rasse mit Voegelin als Wertidee (S. 140) und Integrationsideal (S. 141), deren Bejahung die «Bejahung eines Adels» [S. 141. Alle drei Zitate aus Plessner, Besprechung von Erich Voegelin: Rasse und Staat, S. 413] erfordere. Seitter ist der Ansicht, dass Plessner damit «auf vormoderne ‚Leib-Ideen‘ bzw. Menschen-Ideale» (S. 142) zurückgreife. Diese These wäre genauer auszuführen, denn der Gedanke eines staatlichen Führungszusammenhangs, in den Plessner den (neu zu schaffenden) ‚Adel‘ einbettet, ist genuin modern. Abschließend stellt Seitter fest, dass Plessners Vorstellung mit Voegelins zweitem Rassebuch konvergiere, sodass sich die Frage stelle, ob er dieses zum Zeitpunkt der Rezension kannte (S. 142ff.).

Die folgenden Beiträge von Mario Marino und Karl-Siegbert Rehberg, die sich beide dem Status des Begriffs der Rasse im Denken Gehlens widmen, ergänzen sich auf fruchtbare Weise. Marino wertet die Akten des gescheiterten Leipziger Habilitationsverfahrens von Johannes Rudert im Jahr 1936 aus (S. 147ff.). Neben Gehlen waren an diesem Habilitationsverfahren an der Philosophischen Fakultät der Psychologe Felix Krueger, der Philosoph Theodor Litt und der Soziologe Hans Freyer beteiligt. Gehlen hatte mit seinem ablehnenden Gutachten über die charakterologische Untersuchung, in dem er die Einarbeitung vererbungstheoretischer Literatur forderte, die drei anderen Gutachter, die positiv geurteilt hatten, zu weiteren Stellungnahmen gezwungen und die Habilitation letztendlich scheitern lassen. Marinos Analyse gibt neben dem Konflikt zwischen Psychologie und Philosophie um die Deutungshoheit an der Philosophischen Fakultät vor allem Aufschluss über Gehlens Studien zum Problem der Vererbung, in das er sich just zur Zeit des Gutachtens einarbeitete. Die in Der Mensch ausgewertete vererbungstheoretische Literatur spiegelt die im Gutachten angeführte Literatur genau wider. Rehberg gibt im Durchgang durch Gehlens Voegelin-Rezension, das Nachlassfragment über die Philosophie des Nationalsozialismus, seine Auffassung der Vererbungslehre sowie die Kritik an ihm durch einflussreiche nationalsozialistische Rassentheoretiker einen Überblick über dessen keineswegs eindeutige Stellung zur Rassentheorie. Im Kontext der von Rehberg dargestellten Werkentwicklung zeigt sich, wie Gehlen die Vererbungsidee «dem jeweiligen Zeitgeist» (S. 177) anpasste und in seinen Positionierungen deshalb stets zweideutig blieb, was nationalsozialistischen Rassenanthropologen wie z.B. Krieck sofort auffallen musste (S. 177 ff.). Eingedenk der von Guillaume Plas am Beispiel der philosophischen Anthropologie von Erich Rothacker im darauffolgenden Beitrag herausgearbeiteten Tatsache, dass mit der Ablehnung des Rassegedankens keineswegs auch eine Ablehnung des Nationalsozialismus einhergehen müsse, zieht Rehberg gleichwohl das Fazit, dass Gehlen unter dem Strich «doch kein ‚NS-Philosoph‘ war» (S. 184), weil seine Lehre trotz der mit dem Nationalsozialismus geteilten «Feindsetzungen» (S. 185) letztlich bürgerlich blieb (S. 184 ff.).

Der abschließende Beitrag von Ugo Balzaretti unterzieht Voegelins Position aus der Sicht von Michel Foucaults Theorie des biopolitischen Rassenkrieges einer kompromisslosen Kritik. Der umfangreiche Aufsatz, der eine redaktionelle Straffung verdient hätte, eröffnet damit einen neuen Diskussionszusammenhang. Er macht jedoch auf eine systematisch äußerst wichtige Unterscheidung aufmerksam, die bisher noch nicht explizit thematisiert worden ist. Ausgehend von Voegelins Versuch, „die Idee der Leibeinheit einer Gemeinschaft als Rasse auf ihre mythische Wurzel zurückzuführen“ (S. 263), bemerkt Balzaretti scharfsichtig, dass Voegelin den drei abendländischen Leibideen (antike Stammesgenealogie, Corpus mysticum Christi und Rassenidee) «denselben mystischen Charakter» (S. 263) zuschreibt [Voegelin schreibt, daß die Idee der Leibgemeinschaft immer eine‚ mythische‘ Idee ist, daß sie immer (nicht nur im Falle der christlichen Gemeinschaft) ein corpus mysticum aufbaut“ (Voegelin, Rasse und Staat, S. 14)]: «Voegelin meint den Wesensunterschied zwischen Mystischem und Mythischem problemlos fallen lassen und dadurch eine gemeinsame Front gegen den modernen wissenschaftlichen Reduktionismus bilden zu können» (S. 263f.). Diese Frontbildung muss nach Balzaretti aufgrund der Einebnung zwischen religiöser Mystik und tataktivierendem Mythos scheitern, so dass auch Voegelin dem modernen Szientismus und damit dem Rassismus im Sinne Foucaults zugeordnet werden muss. Ungeachtet dieser treffenden Kritik bleibt ungeklärt, ob sich mit Foucault eine befriedigende Antwort auf die von der Philosophischen Anthropologie aufgeworfene Frage nach dem Leib und seinem Verhältnis zum Politischen finden lassen könnte.

Der von Marino herausgegebene Band eignet sich hervorragend als kritischer Kommentar für eine Neulektüre von Voegelins Rasse und Staat. Voegelins Argumentation gegen den Rassenmaterialismus kann bis heute als vorbildlich angesehen werden. Indem der Band die Fruchtbarkeit von Voegelins Begriff der Leibideen für die Philosophische Anthropologie demonstriert, lädt er zugleich zu einem tieferen Durchdenken des Zusammenhangs zwischen Leiblichkeit und Politik ein. Die zum Teil kontroversen Beiträge führen die diffizilen Streitpunkte, interpretatorischen Fallstricke und Sollbruchstellen der Argumentation Voegelins vor Augen. Dies deutet darauf hin, dass der Begriff der Rasse als Leibidee nicht nur durch die gegenwärtige politische Debattenlage neue Aktualität gewonnen hat, sondern auch eine zentrale systematische Problematik der Philosophischen Anthropologie repräsentiert, die bis heute ungelöst ist.

Andreas Höntsch

S&F_ n.29_2023


[1] H. Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus [1924], in Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 7-133, S. 25. In Macht und menschliche Natur bekräftigt Plessner 1931 sein Bekenntnis indirekt, wo es heißt, dass der Mensch als „Körper […] eine Größe der Natur“ sei, „ihren Schwerkrafts- und Fallgesetzen, ihren Wachstums- und Vererbungsgesetzen wie ein Stück Vieh unterworfen, mit Maß und Gewicht zu messen, bluthaft bedingt“ (H. Plessner, Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht [1931], in Gesammelte Schriften, Bd. 5, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard u. E. Ströker, Suhrkamp, Frankfurt am Main 1981, S. 135-234, S. 225).

 

[2] Voegelin schreibt: „Eine naturwissenschaftliche Anthropologie besteht und ihre Möglichkeit angesichts ihres Bestandes und ihrer glänzenden Resultate zu bestreiten, wäre grotesk; die Klassifikation des Menschen in Rassetypen nach Merkmalsgruppen und das Studium der Vererbung von leiblichen Merkmalen und Anlagen ist ein durchaus legitimes wissenschaftliches Unternehmen, denn ein Teil des menschlichen Gesamtdaseins ist zweifellos tierischer Natur und als solche isolierbar.“ (Voegelin, Rasse und Staat, S. 34) Und weiter: „dort, wo die Anthropologen, die sich als Anhänger der naturwissenschaftlichen Methode ausgeben, seelische oder geistige Rassentypen aufstellen, müssen sie sich, durch das Gefüge des untersuchten Gegenstandes gezwungen, eines Verfahrens bedienen, das mit den Verfahren der Biologie oder irgendeiner anderen Naturwissenschaft nicht das geringste zu schaffen hat, müssen sie mit einem Verfahren arbeiten, das heute konventionell geisteswissenschaftlich genannt wird, mit der Typenbildung auf Grund historischen Materials. Es handelt sich also nicht um einen Gegensatz naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Methoden, sondern nur um die Frage, ob die geisteswissenschaftliche Methode sachkundig und gründlich oder – großzügig gehandhabt wird.“ (Voegelin, Rasse und Staat, S. 13). Michael Henkel stellt deshalb m.E. mit Recht fest, dass Voegelin mit seiner treffenden geisteswissenschaftlichen Kritik der naturwissenschaftlichen Rassetheorien keineswegs „die philosophische Legitimität einer biologisch-naturwissenschaftlichen Anthropologie“ bestreitet, sondern „die Legitimität auch von wissenschaftlichen Rassetheorien“ (S. 91) bestätigt.

 

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