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Menschliche Natur und Ausdruck. Helmuth Plessners Standpunkt

Autore


Vallori Rasini

Università degli Studi di Modena e Reggio Emilia

Scientific Committee

Indice


  1. Der Mensch als Gesamtheit
  2. Kreativität, Ausdruck und Kommunikation
  3. Gesichtsausdruck
  4. Lachen, Weinen, Lächeln

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S&F_n. 25_2021

Abstract


Human Nature and Expression. The Position of Helmuth Plessner

In Helmuth Plessner’s anthropological theory, the human being is a psychophysical totality, in which reason and sensibility are deeply intertwined and produce its positional eccentricity. The human being is the subject endowed with a mediated and conscious relationship with himself and with the world. For this reason, his specific “modus vitale” translates into creativity, expression and linguistic communication, but not only. The face is a “mirror of the soul” and is the medium of some of the most significant expressions characteristic of human nature: laughter and crying, which are considered “borderline reactions” of behaviour, and the smile, widely symbolic and ambivalent.

  1. Der Mensch als Gesamtheit

Bekanntlich verlangt der Mensch nach Selbstauslegung: Das Bedürfnis danach sich selbst zu definieren, den Sinn seines Daseins und des Daseins im Allgemeinen zu finden, ist ein Wesenszug des Menschen. Natürlich kann der Mensch aus seiner eigenen Perspektive – der eines auf eine bestimmte Weise und mit bestimmten Vermögen ausgestatteten Lebewesens – weder heraustreten noch diese außer Acht lassen; deshalb muss wohl eine anthropologische Theorie jeder anderen theoretischen, ethischen oder historischen Betrachtung vorausgehen. Das ist der Standpunkt von Helmuth Plessner, der in seinem umfangreichen Werk die Natur des Menschen in jeder Hinsicht[1] erforscht, indem er die Zusammenarbeit der verschiedenen Wissensbereiche fördert und die Meinung vertritt, dass wissenschaftliche Forschung und philosophische Reflexion, die für eine umfassende Erkundung der anthropologischen Realität unabdingbar sind, auf gegenseitige und fruchtbare Ergänzung hinwirken sollten[2].

Gegenstand der Untersuchung ist eine psychophysische Einheit, eine komplexe strukturelle, biologische und rationale Gesamtheit, die eine so offensichtliche «Doppelheit» offenbart, dass sie jahrhundertelang die Forschung vereitelte und das größte Hindernis für die Klärung des ontologischen Status der menschlichen Natur darstellte. Die Lösung dieser Schwierigkeit ist weitgehend abhängig von der methodologischen Herangehensweise an das Problem und setzt voraus, dass man sich klar zum anthropologischen Dualismus positioniert, insbesondere zum Dualismus kartesianischen Ursprungs, der sowohl im wissenschaftlichen als auch im philosophischen Bereich vorherrschte. Die Feststellung, dass der Mensch gleichzeitig einer spirituellen und einer organischen Dimension angehört, rechtfertigt an sich nicht die «Zersplitterung» seiner Natur, die Rückführung seines Wesens auf zwei Substanzen bzw. Prinzipien; im Gegenteil, es ist notwendig, einen einheitlichen Standpunkt zu finden, ein einheitliches Strukturprinzip anzunehmen, das zur Erklärung der verschiedenen Aspekte führt, unter denen sich die komplexe und widersprüchliche Realität des Menschen zeigt.

In dem Werk Die Stufen des Organischen und der Mensch aus dem Jahr 1928 legt Plessner die Grundlagen seines anthropologischen Projekts fest: «Ohne Philosophie des Menschen», so Plessner, «keine Theorie der menschlichen Lebenserfahrung in den Geisteswissenschaften. Ohne Philosophie der Natur keine Philosophie des Menschen»[3]; es ist notwendig, von den elementaren Kategorien des Lebewesens auszugehen und durch eine minuziöse und komplexe Ableitung der wesentlichen Merkmale des Organischen mit der Rekonstruktion der verschiedenen «Stufen» der Natur fortzufahren, bis hin zur menschlichen Dimension. Die Absicht ist nicht, zu einer Metaphysik des Organischen zu kommen, sondern den logisch-ontologischen Rahmen der strukturellen Koordinaten des Lebenden zu ziehen, die für die Ausarbeitung einer polyvalenten Theorie dienen, die die Grundlage zur Erklärung der verhaltens- und zeitgeschichtlichen Realität des Menschen bilden kann. Diesbezüglich ist der Begriff der «Positionalität» fundamental, durch den die «Doppelaspektivität», in der sich die organische (und insbesondere die menschliche) Realität manifestiert, zur kategorialen Grundlage wird, die den einheitlichen Status des Lebenden garantiert.

Anders als der anorganische Körper, der einfach «ist», «nimmt» das Lebende (auch räumlich und zeitlich) Stellung als organisiertes System, das einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess unterworfen ist. Nur der Organismus «hat» wirklich eine Umwelt und einen Körper und ist das Subjekt dieses «Habens». Aber nur der Mensch ist sich bewusst, ein Subjekt zu sein; er ist sich des Andersheit-Verhältnisses zur Welt, der Objektivität der Dinge, der Einzigartigkeit seiner Existenzform bewusst; nur der Mensch ist ein «Ich», nämlich völlig auf sich selbst reflektiert, eine selbstbewusste Individualität, ein exzentrisches Wesen[4]. Der Mensch erfährt fortwährend die Auswirkungen und Grenzen seiner Lage, und obwohl er in seinem existentiellen Zentrum verwurzelt ist, überschreitet er es, projiziert sich darüber hinaus. Deshalb erfährt er einen tiefen Bruch, einen Hiatus, der jedoch seine besondere Kompaktheit ermöglicht: Der Mensch «lebt diesseits und jenseits des Bruches, als Seele und Körper und als die psycho-physisch neutrale Einheit dieser Sphären»[5].

Zur exzentrischen Wurzel des menschlichen Wesens gehört die Fähigkeit, die Isolation des Ichs umzuwandeln in eine Teilhabe an einer inter-subjektiven und sozialen Dimension[6]. Die Person teilt einen gemeinsamen Bereich, die Sphäre der zwischenmenschlichen Beziehungen und der «Spiritualität» (die Mitwelt). Für Plessner ist der Geist weder Seele noch Bewusstsein. Gewiss, der Mensch ist Seele und Bewusstsein und er erfährt beides als eine Realität in der gleichen Weise, wie er sein Körper-Sein als real erfährt; aber der Geist begründet keine konkrete Realität: er stellt lediglich eine subjektiv-objektiv neutrale partizipative Sphäre dar, deren Möglichkeit von der positionalen Struktur selbst abhängt. Durch diese Sphäre projiziert sich der Mensch jenseits des Gegensatzes von Subjekt und Objekt; und gerade darin besteht sein Paradox: Subjekt gegenüber der Welt und Objekt für sich selbst, gleichzeitig und gerade deshalb entzieht er sich diesem Gegensatz[7]. In der Konkretheit des Lebens greift er in sein eigenes Wirkungsfeld ein, indem er lernt, mit den Mitteln des Verstehens, der Kommunikation, des mimisch-gestischen Ausdrucks eine Verflechtung materieller und spiritueller Daten zu handhaben und dabei stets eine gewisse Distanz – objektivierend, abstrahierend, entfremdend – zu der Gesamtheit der subjektiven und intersubjektiven Bindungen, in die er eingetaucht ist, zu wahren.

 

 

  1. Kreativität, Ausdruck und Kommunikation

Die besondere Existenzform des Menschen bringt Kreativität, Ausdruck und Kommunikationsbedürfnis mit sich[8]. Als Ausdrucksform entsteht jedes Kulturprodukt aus natürlichen Elementen, aus Rohstoffen, die die Umwelt bietet; allerdings kommt ihm die Eigenschaft von Künstlichkeit zu. Weder Form noch Inhalt dieser Manifestationen sind a priori gegeben, lediglich die Art und Weise, wie der Zusammenhang von Form und Inhalt bestimmt wird, d. h. das allgemeine Gesetz der Ausdrucksmodalitäten des Menschen. Was also bestimmt ist, sind nicht die einzelnen konkreten Manifestationen, sondern das Verhältnis zwischen der positionalen Gestaltung des Menschen und der Ausdrucksfähigkeit als seinem „modus vitale“. Im Gegensatz zu allen anderen Lebewesen stellt die kommunikative Äußerung für den Menschen eine zwingende Bedingung und ein nicht unterdrückbares Bedürfnis dar; seine Berufung zur Sozialität und sein «zoon politicon-Sein» hängen unmittelbar von der exzentrischen Natur ab. Diese beinhaltet eine scheinbar paradoxale Zusammensetzung des Zustandes der Bewusstseins-Immanenz und des Kontaktes zur Welt, definierbar als «vermittelte Unmittelbarkeit». Nach diesem anthropologischen Gesetz befindet sich der Mensch in einer «indirekt» direkten Beziehung zur Welt:

Exzentrizität der Position – so Plessner – läßt sich als eine Lage bestimmen, in welcher das Lebenssubjekt mit Allem in indirekt-direkter Beziehung steht. Eine direkte Beziehung ist da gegeben, wo die Beziehungsglieder ohne Zwischenglieder miteinander verknüpft sind. Eine indirekte Beziehung ist da gegeben, wo die Beziehungsglieder durch Zwischenglieder verbunden sind. Eine indirekt-direkte Beziehung soll diejenige Form der Verknüpfung heißen, in welcher das vermittelnde Zwischenglied notwendig ist, um die Unmittelbarkeit der Verbindung herzustellen bzw. zu gewährleisten. Indirekte Direktheit oder vermittelte Unmittelbarkeit stellt demnach keine Sinnlosigkeit, keinen einfach an sich zugrunde gehenden Widerspruch dar, sondern einen Widerspruch, der sich selber auflöst, ohne dabei zu Null zu werden, einen Widerspruch, der sinnvoll bleibt, auch wenn ihm die analytische Logik nicht folgen kann[9].

 

Der Mensch ist sich dieser Lage bewusst: Er erlebt sich als Körper und zugleich als etwas, das im Körper «enthalten» ist; sein Körperleib antwortet darauf und unterscheidet sich jedenfalls von jedem anderen Körper der Umgebung. Dieser Körperleib, den er also «hat» und der er «ist», stellt eine Begrenzung, ein Hindernis und einen Widerstand dar, aber zugleich das Mittel, den «Modus» der Kommunikation mit der Welt. Der Doppeltheit, in der der Mensch sich erlebt, steht die konkrete Einheit gegenüber, die er tatsächlich darstellt; eine Einheit, die auf der existenziellen Ebene ständig verwirklicht, gegliedert und neu kalibriert werden muss. Es geht nicht um die bloße Instrumentalisierung des Körpers durch ein Subjekt; vielmehr geht es um die Vermittlung des Lebenden mit sich selbst im Austausch mit dem Außen (und mit sich selbst). Die Komplexität dieser Beziehung liegt nicht in der tierischen Natur; das Tier kann seinen Körper sinnvoll nutzen, aber es ist sich dieser Instrumentalisierung nicht bewusst, da es sich nicht «von außen» sieht. Indem der Mensch sich «über» sich selbst und sein Dasein stellt, d. h. indem er ein selbstbewusstes Ich wird, erfährt er seine Situation in der Welt als «unmittelbar vermittelt». Plessner sagt dazu:

Nur in den Vermittlung durch meinen Körpers, der ich selbst leibhaft bin (obwohl ich – ihn habe), ist das Ich bei den Dingen, schauend und handelnd. Die nachweisbare Existenz von Zwischengliedern wie chemischen Prozessen, Bewusstseinsinhalten, Bildern und seelischen Vorgängen unterbricht – wie jede Analyse – für unser Verständnis den Sinn der Vermittlung; wie eine isolierte Darbietung der einzelnen Töne den musikalischen Sinn unterbricht. Im Zuge der Vermittlung dagegen erfüllen sie ihren Sinn: sich selbst auszulöschen, um die Unmittelbarkeit der Beziehung zwischen den Beziehungsgliedern zu schaffen[10].

 

Im Rahmen der Plessner-Theorie stellt das Gesetz der vermittelten Unmittelbarkeit eine Grundlage dar, die jeden Versuch einer dualistischen Matrix in der Erklärung der menschlichen Natur obsolet macht. Dieser Struktur kann alles entsprechen, worauf wir uns beziehen, wenn wir über den Homo Faber, seine Verhaltensweisen und jede Tendenz zum Ausdruck, in seinen verschiedenen Manifestationen von Sprache, Mimik, Gestik sprechen[11].

 

  1. Gesichtsausdruck

Unter den Ausdrucksformen spielen vor allem diejenigen eine besondere Rolle, die durch das Gesicht vermittelt werden: es ist eine bevorzugte Fläche für Position und Sichtbarkeit, ein wahrhafter „Spiegel” der Seele[12]. Denn obwohl der ganze Körper ein Ausdrucksmittel ist, übernimmt das Gesicht die Führungs- und Darstellungsfunktion der gesamten Person. Vom Gesicht aus blickt der Mensch nach außen und nimmt das Außen, nimmt Bilder, Töne, Signale als wichtigste Instrumente der Vermittlung auf. Die Stimme, die vom Gesicht her kommt und sich von ihm aus verbreitet, vermittelt die musikalische und sprachliche Kommunikation, und Verbalsprache ist, wie immer betont wurde, zweifellos eine außerordentlich effektive Form der Beziehung. Aber es sind andere Kommunikationsformen, an denen Plessner größeres Interesse findet. Das Lachen beispielsweise ist eine der Modalitäten des Ausdrucks, die aufgrund ihrer Einzigartigkeit schon immer große Anziehungskraft entfaltete. Das beweist eine umfangreiche Literatur humanistischer, psychologischer und wissenschaftlicher Art; Plessner jedoch interessiert sich für einen anderen, einen rein anthropologischen Gesichtspunkt: Für ihn ist es wichtig zu bestimmen, welche „eigentlich menschliche” Bedeutung diese Erscheinung hat, die er für eng mit dem Weinen verbunden hält. Lachen und Weinen können – ebenso wie die verbale Sprache – als ein spezifisches Monopol der menschlichen Natur betrachtet werden[13]. Die Vorstellung, dass Lachen und Weinen, die im allgemeinen als Sinnbild einer „Geisteshaltung” verstanden werden, dem Menschen als Spezifikum angehören, ist alt und weit verbreitet. Deshalb werden Lachen und Weinen zu charakteristischen Formen für spezifisch menschliche Inhalte. Man denke beispielsweise an die klassische Darstellung der alten Philosophen Heraklit und Demokrit: der erste, weinende, Sinnbild des traurigen Gewahrseins des ewigen Werdens und der Vergänglichkeit der weltlichen Dinge; der zweite, Lachende, dagegen symbolisiert die Rücksichtslosigkeit dessen, der, nachdem er das unendlich Kleine und das unendlich Große erkannt hat, sie ehrt, indem er sich von der menschlichen Egozentrik verabschiedet. Aber hier sind das Lachen und das Weinen der Philosophen nur ein Mittel zu etwas anderem, sie sind Mittel zur Manifestation einer allgemeinen Einstellung gegenüber der Welt; so betrachtet bleiben sie auf derselben, eben symbolischen Ebene einer beliebigen Geste, eines besonderen mimischen Ausdrucks, eines intensiven Blicks, der Bewegung des Arms oder der Hand auf etwas hin.

Um ihre eigentliche Bedeutung zu erfahren, müsse man Plessner zufolge ihre Stelle im gesamten menschlichen Verhalten untersuchen. Dann würde sich herausstellen, dass Lachen und Weinen die Rolle von „Hauptmanifestationen” als «Grenzreaktionen» spielen, d. h. «an der Grenze” des normalen menschlichen Verhaltens. Sie repräsentieren nicht einfach die beiden gegensätzlichen Gesichter der Stimmung – Freude und Traurigkeit – wie oft angenommen wird, denn es ist nicht unbedingt notwendig, dass die beiden Ausdrucksformen auf eindeutige und eindeutig positive oder negative Stimmungen zurückgeführt werden können. Lacht man etwa nicht auch in Momenten großer Verlegenheit oder Verwirrung und somit in Gegenwart einer alles anderen als positiven Stimmung? Und kann man nicht weinen, zum Beispiel in einem Moment intensiver und unerwarteter Freude? Deshalb ist eine Kurskorrektur notwendig: man darf die Erscheinungsformen nicht an die Gründe binden, die sie auslösen, sondern muss verstehen, was für eine Situation – für den Menschen als Ganzes – sich ergibt, wenn diese Äußerungen auftreten.

 

  1. Lachen, Weinen, Lächeln

Vom Standpunkt einer anthropologischen Analyse aus stellen Lachen und Weinen «Kapitulationen», Momente des Sturzes dar: Man gibt sich dem Lachen hin, man überlässt sich dem Weinen; sie bezeichnen «einen Verlust der Beherrschung, ein Zerbrechen der Ausgewogenheit zwischen Mensch und physischer Existenz»[14]. Sowohl im Lachen als auch im Weinen erlebt der Mensch einen Bruch, aber dieser Beziehungsverlust nimmt dennoch den Sinn einer Antwort an. Angesichts jeweils unterschiedlicher Situationen bewahrt der Mensch die Bedeutung seines Lebens und kontrolliert die Beziehungen, die ihn mit den anderen verbinden, indem er sich mehr oder weniger verhaltenskonsequent zeigt. In jedem Augenblick begegnet er den Umständen, indem er zuerst die ihm zur Verfügung stehenden Mittel beherrscht: Worte, Gesten, Grimassen, Bewegungen. Manchmal jedoch gestaltet sich die Situation entwaffnend, und der Mensch verliert seine Selbstbeherrschung und stürzt in eine unkontrollierte Reaktion, die dem rein physiologischen Mechanismus ausgeliefert ist: das passiert beim Lachen und Weinen, die eben deshalb als Phänomene «an der Grenze des Verhaltens» bezeichnet werden. Sie treten an die Stelle des üblichen Verhaltens, da dieses das Äußerste erreicht hat und keine angemessene Antwort mehr geben kann. Es handelt sich jedoch nicht um menschenunwürdige, gewissermaßen „unanständige” Äußerungen. Obwohl sie Ausdruck einer „Kapitulation“ sind, werden Lachen und Weinen immer noch als bedeutungsvolle Reaktionen verstanden, als eine echte, die einzig mögliche Antwort für eine Person in einer Situation, die irgendwie „unmöglich” geworden ist.

Lachen und Weinen sind jedoch keinesfalls austauschbar. Es handelt sich um Phänomene der gleichen Art, um Manifestationen der Befreiung des Körpers von der psychisch-physischen Einheit des Menschen, und das allein rechtfertigt eine gemeinsame Behandlung, aber sie treten unter verschiedenen Bedingungen auf. Das Auftreten der einen oder der anderen Manifestation hängt nicht von den Gründen an sich ab, sondern davon, wie der Grund die Person trifft, es hängt ab von der Situation, die sich für sie ergibt. Mit dem Lachen wird eine Situation quittiert, die zugleich bindet und befreit, eine zweideutige und missverständliche Situation, in der die Un-Ernsthaftigkeit vorherrscht. Wenn der Mensch, obwohl er sich nicht wirklich in Gefahr befindet, nicht in der Lage ist, sein gewohntes Verhalten beizubehalten, weil der Sachverhalt nicht klar und eindeutig ist, entsteht eine Spannung, die nur der Ausbruch des Lachens lösen kann. Im Gegensatz dazu ergibt sich das Weinen, wenn die Situation die normale existentielle Polyvalenz auflöst, die der Mensch empfindet. Das Individuum, das sich dem reinen Körpermechanismus überlässt, wird davon zur Gänze erfasst, es wird unfähig, sich von ihm zu distanzieren. Das Lachen entsteht in jenen Situationen, in denen die Relativität der subjektiven Existenz angesichts der Macht eines als „absolut” empfundenen Elements schwindet (ohne dass wirklich bedrohliche Umstände eintreten, die zur Flucht zwingen würden).

Und das Lächeln? Wie ist sein Status? Gewiss, das Lächeln erinnert zweifellos an die entschiedenere und lauterere Manifestation des Lachens, als handelte es sich um eine verkleinerte Form oder um sein Anfangsstadium. Selbst die sprachliche Formulierung scheint sich in vielen Fällen an diesen Eindruck zu halten: Wie beim deutschen Wort lächeln verweist auch sorridere, sourire, sonrisa, osmijeh oder buzequeshje eindeutig auf das Wort „lachen” in der jeweiligen Sprache. Diese Tatsache ist nicht unbegründet: Es kommt oft vor, dass das Lachen durch ein Lächeln ausgelöst wird oder mit einem Lächeln endet; oder es kommt vor, dass man sich gezwungenermaßen zurücknimmt und lächelt anstatt offen zu lachen. Aber unter diesen Umständen übernimmt vor allem die Mimik die Führung. An sich, so Plessner, ist das Lächeln ein selbständiger Ausdruck mit eigener Charakterisierung und mit eigenen Vorkommnissen, weshalb es gesondert behandelt werden muss[15].

Das Lächeln hat den hermeneutischen Status einer zentralen Ausdrucksform sui generis. Diese Zentralität verdankt sich seiner Polyvalenz, d.h. seiner außergewöhnlichen Plastizität, die es zu einem mimischen Verhalten macht, das die unterschiedlichsten Gemütsregungen vermitteln kann. Unter den Ausdrucksformen kommt ihm das Privileg zu, nicht an eine bestimmte Emotion gebunden zu sein; ein Privileg, das das Lächeln in den Dienst verschiedener und sogar gegensätzlicher Mitteilungen stellt und gleichzeitig seine Zuordnung mühsam macht. Das Lächeln ist so anpassungsfähig und nuanciert, dass es in Situationen auftreten kann, die von Unbewusstheit (man denke an das Lächeln eines Säuglings oder an das Lächeln, das dem Todeskampf folgt) bis zur vollständigsten und weitsichtigsten Kenntnis reichen; von Wut bis zum geheimen Einverständnis; von Verlegenheit bis Eingeständnis: ein unglaublich breites Spektrum von Anwendungen, wo der Mensch nicht «dem Ausdruck ausgeliefert» ist, sondern er ihn zeigt (und ihn in der Regel beherrscht).

Das Lächeln hat ein enormes symbolisches Potential, eine unvergleichliche Fähigkeit zur zarten, aber doch mitreißenden Anspielung, die anhand des perspektivischen Abstandes die volle Herrschaft des Menschen über sich selbst und die Welt festschreibt. Das Lächeln unterbreitet dem Gesicht jenes plastische Minenspiel, das es dem Menschen erlaubt auf anspruchsvollste Herausforderungen einzugehen; und es befähigt ihn zu akrobatischen Stimmungsumschwüngen innerhalb eines komplizierten Geflechts von Handlungen und Empfindungen. Obwohl es extreme Gemütszustände zeigen kann, zeigt sich das Lächeln nie „im Äußersten”, es ist nicht nur eine „Wirkung” (wie Lachen) und kann nicht mit einem Mangel gleichgesetzt werden. Während sich das Lachen an der Grenze des Verhaltens zeigt und die Instabilität der menschlichen Natur zum Ausdruck bringt, offenbart das Lächeln im Gegenteil deren Kompliziertheit, durchläuft ihre gefährliche Zweideutigkeit und schützt sie zuverlässig. Das Lächeln kann sich weitreichende Eingriffe in die Art und Weise, in die Richtung der Leistungen und in die Spielregeln erlauben, aber es kann weder auf die Rolle des Spiegels der Exzentrizität verzichten noch sich in einem Körpermechanismus auflösen. Frei, aber auch immer gefesselt, zweideutig, mehrdeutig, völlig exponiert, stellt das Lächeln – von den Belangen des Ausdrucks her gesehen – das treffende Sinnbild der anthropologischen Situation dar; es ist also die authentischste Manifestation der Menschlichkeit des Menschen und sein paradoxestes Phänomen.


[1] Seine Hauptarbeiten sind zusammengetragen in: H. Plessner, Gesammelte Schriften I-X, hrsg. v. G. Dux, O. Marquard und E. Ströker (unter Mitarbeit von R. W. Schmidt, A. Wetterer und M. J. Zemlin), Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1980-1985. Zu biografischen Angaben siehe seine Selbstdarstellung (1975), in: Gesammelte Schriften X, zit., S. 302-341.

[2] Vgl.: H. Plessner, Moderner Wissenschaftsbegriff und philosophische Tradition (1956), in: Gesammelte Schriften, IX, zit., S. 325-331.

[3] Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, in: Gesammelte Schriften, IV, zit., S. 63.

[4] Vgl. ebenda, S. 360 ff.

[5] Ebenda, S. 365.

[6] Siehe diesbezüglich von Plessner, Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, in: Gesammelte Schriften, V, zit., SS. 7-133. 

[7] H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, zit., S. 379. Zu Plessners Konzeption bezüglich der Gesetze der menschlichen Natur siehe: V. Rasini, L’eccentrico Filosofia della natura e antropologia in Helmuth Plessner, Mimesis, Milano 2013, S. 109 ff.

[8] Vgl. H. Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, zit., S. 396 ff.

[9] Ebenda, S. 399-400.

[10] H. Plessner, Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, in: Gesammelte Schriften, VII, zit., S. 201-387; S. 247.

[11] Siehe zu diesem Thema: B. Accarino, M. Schloßberger (Hrsg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Internationales Jahrbuch für Philosophische Anthropologie, Bd 1, Berlin 2008; italienische Version: B. Accarino (Hrsg.), Espressività e stile. La filosofia dei sensi e dell’espressione in Helmuth Plessner, Mimesis, Milano 2009.

[12] H. Plessner, Lachen und Weinen, zit., S. 250.

[13] Vgl.: V. Rasini, L’espressione non verbale: il riso e il pianto in Plessner, in: “Rivi; italienische Version: B. Accarino (Hrsg.), Espressività e stile. La filosofia dei sensi e dell’espressione in Helmuth Plessner, Mimesis, Milano 2009.sta Italiana di filosofia del Linguaggio”, VII, 2, 2013, S. 123-135.

[14] H. Plessner, Lachen und Weinen, zit., S. 273.

[15] H. Plessner, Das Lächeln, in: Gesammelte Schriften VII, zit., S. 419-434.

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